#StopptTierleid: „Melden und Löschen ist die sinnvollere Reaktion.“
Was steckt hinter der Darstellung von Gewalt gegen Tiere in sozialen Netzwerken? Wer sind die Ersteller*innen der Inhalte und was könnte sie motivieren? Und welche Rolle spielt die Reaktion anderer Nutzer*innen? Im Gespräch teilt der Soziologie Dr. Marcel Sebastian seine Ansichten und Gedanken zur Kampagne „Stoppt Tierleid in den sozialen Netzwerken“.
Zur Person:
Soziologe Dr. Marcel Sebastian richtet seinen Forschungsschwerpunkt unter anderem auf die Mensch-Tier-Beziehung und die Gewaltsoziologie – das macht ihn zum Experten unserer Kampagne „Stoppt Tierleid in den sozialen Netzwerken“.
Mehr erfahren: https://www.marcelsebastian.de/
Welttierschutzgesellschaft (WTG e.V.): Lieber Herr Dr. Sebastian, Sie sind Soziologe und legen einen Forschungsschwerpunkt auf die Mensch-Tier-Beziehung. Ebenso sind sie in der Gewaltforschung aktiv. Inwiefern haben Sie außerdem einen beruflichen Bezug zum Thema „Tierleid in den sozialen Netzwerken“?
Dr. Marcel Sebastian: Wenn man sich mit dem Mensch-Tier-Verhältnis beschäftigt, hat man unmittelbar auch mit zahlreichen Interaktionsbeziehungen und Beziehungstypen zutun, die auch durch Gewalt charakterisiert sind. Social Media stand dabei bisher nicht im Zentrum meiner Arbeit, aber klar ist, dass Social Media Plattformen unsere Kommunikation und insbesondere auch das Führen öffentlicher Debatten verändert haben. Das macht die Plattformen auch zu spannenden Gegenständen empirischer Forschung: Die Möglichkeit der weltweiten Vernetzung und die neuen Kommunikationstechnologien, die auch neue Formen der Erzeugung von Aufmerksamkeit ermöglichen, wurden in Bezug auf die Mensch-Tier-Beziehung bisher erst kaum untersucht.
Anhand Ihrer Publikationen ist ein sehr klarer Fokus Ihrer Arbeit die Tierquälerei. Inwiefern?
Ich habe mich in meiner Forschung sowohl empirisch als auch theoretisch mit der Gewaltsoziologie beschäftigt. Wenn wir über das Phänomen Tierquälerei sprechen, müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen, dass es sich hier um einen weitgehend undefinierten und kulturell sehr unterschiedlich interpretierten Begriff handelt. Was für die einen grausam erscheint, ist für die anderen weniger schlimm oder sogar normal – und andersherum. Grundsätzlich unterscheiden sich Mensch-Tier-Beziehungen deutlich im Hinblick darauf, wie Gewalt an Tieren gesellschaftlich wahrgenommen wird.
Aber es gibt klare juristische Rahmen, was die Gewalt gegen Tiere angeht…
Das Tierschutzgesetz verbietet das Zufügen von Leiden ohne vernünftigen Grund. Was jedoch als vernünftig gilt, ist weniger das Resultat einer juristischen, sondern vielmehr einer kulturellen Aushandlung: Als Gesellschaft streiten wir darüber, welches Verhalten und Behandlungsweisen gegenüber Tieren als angemessen und richtig erscheinen. Kulturell gelten einige Formen der Gewalt als legitim und andere als illegitim. Diese Definitionen werden sozial hergestellt und wandeln sich. Früher galt beispielsweise die Betäubung von Rindern mit dem Hammer noch als legitim, heute ist das strafbar und wird als skandalös betrachtet. Als Soziologe schaue ich, wie und warum sich die öffentlichen Vorstellungen der Legitimität bestimmter Handlungen, also auch der Gewalt gegen Tiere, verändern.
Gibt es denn das typische Täter*innen-Profil einer Tierquälerin oder eines Tierquälers?
Nein, die Gründe, warum ein Mensch ein Tier quält, können sehr unterschiedlich sein. Die Motive, Rahmenbedingungen und Interaktionsformen sind komplex. Für die Kampagne „Stoppt Tierleid in sozialen Medien“ spielen Menschen eine Rolle, die bewusst einen Tabubruch öffentlich inszenieren, indem sie selbst bei enger Auslegung des Tierqualbegriffs gesellschaftlich abgelehnte Gewalthandlungen an Tieren zeigen. Meist handelt es sich hier auch um Haustiere oder Wildtiere. Das unterscheidet sie beispielsweise von Schlachthof-Mitarbeiter*innen, die systematisch legalisierte Gewalt an Tieren ausüben, diese aber nicht öffentlich darstellen. Im Gegenteil scheuen diese Menschen häufig die Öffentlichkeit, da ihr Beruf einen sehr schlechten Ruf hat.
Wer sind die Menschen, die Haustiere quälen?
Verallgemeinernd lässt sich das wohl nicht sagen. Die Motive können sehr unterschiedlich sein und es fehlt hier an empirischer Forschung. Gewalt an Haustieren kann beispielsweise geschehen, weil der (meist männliche) Partner seinem Gegenüber zeigen will „Ich habe in dieser Familie die Macht und ich exerziere am Tier vor, was euch blüht, wenn ihr euch mir widersetzt. Pass auf, du bist als nächstes dran.“ Diese interfamiliäre Gewalt an Tieren ist dann eine Kommunikation zu den Familienmitgliedern und ein Phänomen mit ganz anderer Note, als wenn Jugendliche aus Langeweile, Frustration oder als eine Art Initiationsritus in die Welt der Erwachsenen Tiere quälen, wenn keiner zuguckt.
Wo wir bei der Kampagne „Stoppt Tierleid in den sozialen Netzwerken“ anknüpfen. Wer stellt seine Tierqual-Taten in soziale Netzwerke?
Hier haben wir es mit einem weiteren möglichen Motiv zu tun. Das Veröffentlichen einer Handlung im Internet ist ein sozialer Akt. Wenn ich mich auf Social-Media Plattformen im Skiurlaub zeige, leiste ich Identitätsarbeit. Ich gebe den Leuten ein Angebot, wie sie mich sehen sollen. Quäle ich Tiere und stelle es ins Internet, habe ich die Intention, den Kommunikationsraum zu öffnen. Offen und ungefiltert: Ich will, dass es gesehen wird. Natürlich kann auch eine naive Unwissenheit über die Reichweite im digitalen Raum eine Rolle spielen, aber mehrheitlich dürfte es um die Suche nach Anerkennung und Aufmerksamkeit gehen. Unsere Gesellschaft spornt die digitale Selbstinszenierung an. Gesehen und wahrgenommen werden – wenn auch durch negative Reaktionen – ist in der Spätmoderne eine der wichtigsten Ressourcen für Selbstwert und Sinn geworden. Da nur wenige zu ‚Influencer*innen‘ werden und drastischer Content Aufmerksamkeit erzeugt, kann auch eine gewisse Eskalationsdynamik im Diskurs nachvollzogen werden: Provozierende oder überraschende Inhalte erzeugen Reichweite. Dies könnte auch bei Tierqual im Netz eine wichtige Rolle spielen.
Was können Sie denn über die Ursachen dieses Handelns sagen?
Die Frage nach den individuellen Ursachen ist natürlich vor allem eine kriminologische oder psychologische. Aus Sicht der Soziologie, also mit Blick auf die gesellschaftlichen Rahmungen dieser Phänomene, kann gesagt werden, dass soziale Medien nach einer bestimmten Logik funktionieren. In ihnen herrscht eine bestimmte Aufmerksamkeitsökonomie: Viele Nutzer*innen wollen sich nicht nur austauschen, sondern Sichtbarkeit für sich selbst erzeugen – Klicks generieren. Große Sichtbarkeit erhalten allerdings nur die wenigsten Nutzer*innen. Die meisten von uns sind kollektives Mittelmaß und kommen mit dem Wachstumsimperativ nicht mit. Influencer*innen befeuern das Tellerwäscher-Narrativ – da hat es eine*r geschafft, mit dem eigenen Content berühmt zu werden. Für die, die das nicht schaffen, kann daraus eine Dynamik der Steigerung entstehen. Inhalte müssen drastischer, unerwartet, oder eben schockierender sein, um Aufmerksamkeit zu erhalten. In einer Gesellschaft, in der Menschen immer stärker gefordert sind, als Individuen sichtbar zu sein und in der Leistung und ständiges Wachstum zu den basalen Werten gehören, kann es für Menschen verlockend sein, durch Gewaltdarstellungen von einem großen Publikum wahrgenommen zu werden. Provokationen und Tabubrüche gehören zu den klassischen Techniken des Diskurses in sozialen Medien. Videos von Tierqual zu veröffentlichen ist natürlich ein Phänomen an den äußersten Rändern der Onlinekultur, das nur von den allerwenigsten User*innen genutzt wird, aber es ist wichtig, diese grundsätzlichen Rahmenbedingungen der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie mitzudenken. Das ist allerdings nur eine von vielen möglichen soziologischen Erklärungen für dieses Phänomen.
Die Interaktion mit anderen Nutzer*innen spielt also eine große Rolle?
Ja, das Posten von Gewaltdarstellungen ist ein sozialer Akt. Wer so etwas postet, erwartet im Gegenüber eine bestimmte Reaktion. Wenn das Posten auf ein geschlossenes, subkulturelles Milieu beschränkt bleibt, in dem diese Form der Gewaltdarstellung positiv betrachtet wird, zielt die Kommunikation auf die Bildung gemeinsamer Bindungen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl ab. Man bespielt die Wünsche und Erwartungen der eigenen Community, bestätigt und bestärkt sich gegenseitig.
Wenn diese Bilder in einer breiteren Öffentlichkeit publiziert werden, spielt vermutlich die bewusste Grenzübertretung eine zentrale Rolle. Ähnlich wie beim ‚trolling‘ geht es den Postenden darum, Reaktionen zu provozieren. Auch, oder vielleicht sogar vor allem negative Reaktionen und Kritik können dann als Erfolg wahrgenommen werden. Dies kann besonders für Menschen, die in ihrem Alltag eher anonymisiert und unbeachtet leben, eine Möglichkeit der öffentlichen Beachtung darstellen.
Nutzer*innen werden von uns angeleitet, jegliche Tierleid-Inhalte, die keinen informativen oder dokumentarischen Zweck erfüllen, nicht zu teilen oder zu kommentieren, sondern sie stattdessen konsequent zu melden. Damit eben kein Hype entsteht.
Aber aus Erfahrungswerten wissen wir, dass es vielen schwerfällt, keine Reaktion zu zeigen. Warum ist das so?
Soziale Netzwerke leben von Partizipation und Interaktion. Das Reagieren mittels Wutsmileys oder durch Kommentare kann für Menschen entlastend sein, weil es das Gefühl vermittelt, etwas gegen das Dargestellte zu unternehmen. Diese Form der Reaktion ist aber oft ein zweischneidiges Schwert, weil durch Interaktion eben auch Reichweite erzeugt wird und man in der Regel mit Reaktion nur erreicht, was die Gewaltposter*innen beabsichtigen. Sensibilisierung von Nutzer*innen ist hier also tatsächlich sehr wichtig. So sehr es auch in den Fingern juckt: Melden und Löschen ist oft die sinnvollere Reaktion.
Dennoch erhalten die Tierleid-Inhalte eine immense Reichweite. Wer sind die Menschen, die die Beiträge entgegen der Empfehlungen aus Überzeugung teilen?
Als Gesellschaft haben wir ein schwieriges Verhältnis zur Gewalt. Eine gewisse Faszination für Gewaltdarstellungen ist kulturell ja sogar akzeptiert: Jeden Sonntag schauen Millionen Menschen, wie im Tatort ein Gewaltverbrechen aufgeklärt wird. Menschen mit mehr Toleranz für Gewaltdarstellungen schauen Horrorfilme oder Zombieserien. Dadurch verhandeln wir Gewalt als kulturelles Phänomen. Wir beschäftigen uns mit der Gewalt und unseren Gefühlen ihr gegenüber. Bis zur absichtlichen öffentlichen Darstellung brutaler und vor allem nicht fiktiver Gewaltpraxen ist es natürlich ein sehr weiter Schritt, aber diese Phänomene liegen gleichsam am äußersten Rand eines kulturellen Kontinuums der Darstellung und Thematisierung von Gewalt. Was Menschen motiviert, solche Inhalte aus Überzeugung zu teilen, vermag ich nicht zu sagen. Hierfür wäre empirische Forschung nötig, an der es bisher leider weitgehend mangelt.
Zum Abschluss würde uns interessieren, was Sie in Bezug auf die Regeln der sozialen Netzwerke empfehlen, die weltweit Menschen unterschiedlicher Gesellschaften und somit Einstellungen miteinander verbinden? Denn eine gesetzliche Grundlage, die eine Darstellung von Tierleid verbietet, gibt es nicht.
Gesetzliche Regelungen zu diesem Thema müssen einen Umgang mit unserem zutiefst gespaltenen Verhältnis zu Tieren finden. Social Media Plattformen haben es da mit ihren Community-Regeln einfacher. Weil sie keine demokratischen Institutionen sind, können sie selbst definieren, wo sie jeweils die Inhalte, die Nutzer*innen teilen dürfen, begrenzen. Sie können also flexibler auf die kulturellen Ideen der Mehrheit der User*innen reagieren und eigenständig über die gesetzlichen Rahmenbedingungen in dieser Sache hinausgehen. Das ist einerseits intransparenter, andererseits aber auch effektiver. Diese Praxis der eigenmächtigen Definition von Communityregeln ist durchaus gängig und zeigt sich etwa in der unterschiedlichen Behandlung des Themas Nacktheit oder Rechtsextremismus. Dass die Plattformen in der Lage sind, Content konsequent zu blocken und auch strafrechtliche Schritte einzuleiten, zeigt der Umgang der etablierten Social Media Konzerne mit Darstellungen sexueller Gewalt an Schutzbefohlenen.
Einige Netzwerke schließen schwere Tierqual auch bereits in ihre Gemeinschaftsstandards ein, sichern dann aber die Einhaltung nicht ausreichend, sodass Verstöße nicht verfolgt werden. Welche Gefahr sehen Sie darin?
Jede Regel, die mit Sanktionsmacht ausgestattet ist, braucht auch Akteure, die diese Regeln umsetzen. Wenn beispielsweise Gerichte die Gesetze nicht umsetzen, wird die gesamte Institution unwirksam. Wenn es den Prüfstellen in den sozialen Medien an Motivation, Fachkenntnis oder Ressourcen mangelt, um Verstöße gegen die Communityregeln zu ahnden, wird die Regel zum Papiertiger. Natürlich sind die Prüfstellen auf die Meldungen der User*innen angewiesen. Es muss also eine Konsequenz des Löschens der Inhalte geben, damit Nutzer*innen motiviert sind, diese Art der ‚Schwarmkontrolle‘ auch zu nutzen. Wenn die Frustration von Seiten der Nutzer*innen zu groß wird, weil Meldungen keine Konsequenzen haben, führt das zum Mangel an Vertrauen auf die Durchsetzungsfähigkeit der Gemeinschaftsstandards. Und das kann letztlich den Rückzug aus der Auseinandersetzung zur Folge haben, was in einer demokratischen Gesellschaft natürlich nicht das Ziel sein kann.
Wir danken für das spannende Gespräch und Ihre wertvollen Ansichten.